Tägliche News für das Management von Pflege und Wohnen im Alter

10. November 2025 | 07:00 Uhr
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"Die populistische Syrien-Debatte macht mich fassungslos"

Nach dem Ende des Bürgerkriegs in Syrien gebe es keinen Grund mehr für Asyl, die Rückführungen könnten beginnen, sagte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) in der vergangenen Woche. Was bedeutet diese Ankündigung für die Altenpflege, in der auch Syrer inzwischen zum Mitarbeiterstamm gehören? Care vor9 sprach darüber mit Bodo de Vries (Foto) aus der Geschäftsführung des Johanneswerks in Bielefeld. Der konfessionelle Pflegeträger beschäftigt rund 1.000 Mitarbeiter mit ausländischem Pass.

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Bodo de Vries ist vielen in der Branche wegen seines Schlagabtauschs mit AfD-Chefin Weidel in der ZDF-Sendung "Klartext" im Februar bekannt  

Das Johanneswerk ist bekannt dafür, dass es sehr viele ausländische Pflegekräfte beschäftigt. Wie wirkt sich die Diskussion über das Auslaufen des Asyls für Syrer auf das Unternehmen aus, Herr de Vries?          

Wenn ich kurz mit der bekannten Litanei starten darf: Wir stehen in der Pflege vor der Herausforderung, dass wir einen steigenden Versorgungsbedarf haben, aber gleichzeitig die Zahl der Pflegekräfte zurückgeht. Für uns im Johanneswerk bedeutet das: In den nächsten zehn Jahren gehen von den fast 4.000 Mitarbeiter in der Pflege circa 1.200 in den Ruhestand. Da entsteht ein Mangel, von dem ich glaube, dass er sich allein mit den Absolventen unserer vier Pflegeschulen nicht kompensieren lässt. Wir beschäftigen jetzt schon insgesamt 1.000 Mitarbeiter mit 95 unterschiedlichen Pässen. Aber wir werden künftig noch mehr internationale Pflegekräfte einstellen müssen, wenn wir den Status quo der heutigen Versorgung halten wollen.

Wie viele Syrer arbeiten bei Ihnen?

In der Pflege sind bei uns heute 50 Syrer beschäftigt, 30 von ihnen haben eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Es sind auch welche dabei, deren Abschiebung gerade ausgesetzt wurde. Um die haben wir gerade besonders Angst. Unser Ziel ist eigentlich, sie in die Ausbildung zu bringen und ihnen eine berufliche Zukunft zu geben. Doch die oberflächliche Diskussion auf Regierungsebene, wer bis wann zurück nach Syrien gehen sollte, irritiert, verunsichert und löst bei ihnen Ängste aus.

Ich bin auch ziemlich fassungslos: Das Ganze passiert in einem Moment, in dem wir alles daransetzen, diese Kollegen stärker zu binden und zu qualifizieren. Denn wir sind auf sie angewiesen. Es ist einfach unerträglich, wie selbst die Regierungsparteien die Situation in der Pflege verkennen und die Zusammenhänge der Reduktion von Migranten in Deutschland zur eigentlichen Bedarfslage ignorieren.

Manche scheinen zu glauben, Syrer seien für die Versorgung eine entbehrliche Personalressource, die mit Schrubber und Kopftuch bei uns herumlaufen. Dieses Bild entspricht nicht der Bedeutung dieser Kolleginnen und Kollegen für das Gesundheits- und Pflegewesen. Viele sind inzwischen gut qualifiziert. Wir freuen uns, dass es mit ihrer Ausbildung gut läuft und investieren in sie. Und das meine ich gar nicht mal monetär. Bei uns sind viele, Kollegen und Kolleginnen in die Integration involviert.     

Wie genau sind ihre Mitarbeiter in die Integration involviert?  

Die Syrer und Migranten aus anderen Ländern leben hier teilweise allein oder nur mit wenig Familie, alles ist neu und ungewohnt für sie. In einer solchen Situation ist es ein Unterschied, ob ich einen Flyer von der Kommune mit Adressen bekomme, oder ob die Einrichtungsleitung mich zur Behörde oder zur Bank begleitet.

Augenblicklich haben bei uns fast 400 Mitarbeiter mit Flüchtlingshintergrund einen Paten, der zum Beispiel bei der Wohnungssuche und beim Gang zum Amt hilft und fürs Wochenende gemeinsame Unternehmungen plant. Diese sogenannten Buddies engagieren sich sehr, ihre ausländischen Kollegen zu binden und sie im Berufsalltag zu unterstützen. Außerdem haben wir Ehrenamtliche, die bei der Fachsprache im Kontext mit der Ausbildung helfen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich in die spezifischen Regelungen der Herkunftsländer eingearbeitet haben. Denn wenn es um Migranten aus Syrien, Marokko, Kenia und anderen nicht europäischen Ländern geht, ist sehr spezifisches Wissen für ihren Aufenthalt gefragt. Wir sind stolz darauf, in den letzten drei Jahren 185 zusätzliche Auszubildende allein aus diesen Gruppen in unseren Schulen für die Pflege zu qualifizieren.

Keine Frage: Integration ist Arbeit und sie erstreckt sich über viele Jahre. Wir müssen uns auch damit auseinandersetzen, dass viele unserer ausländischen Mitarbeiter Männer sind – Männer, die aus Ländern wie Syrien kommen und die Steuerung und Führung durch Frauen in einem Unternehmen nicht gewohnt sind. In unseren Pflegeeinrichtungen ist dies allerdings ein prägendes Merkmal. Zur Integrationsarbeit gehört deshalb auch die Auseinandersetzung mit den Grundlagen unserer gesellschaftlichen Ordnung und Beziehungsgestaltung in Deutschland und Mitteleuropa.

Entstehen in puncto Geschlechterrollen viele Konflikte in ihren Einrichtungen?

Natürlich gibt es da auch Konflikte. Auch die Überwindung von Sprachproblemen bedeutet für alle Arbeit und Engagement. Aber wir stellen uns dem und wir arbeiten daran. Man kann es nicht oft genug sagen: Wir haben bei den Pflegekräften mit einem Rückgang bei steigenden Bedarfen umzugehen.

Die Situation ist jetzt schon schwierig, dabei gehören die Bewohner, die augenblicklich in unseren Einrichtungen leben, noch nicht einmal zu den geburtenstarken Jahrgängen. Ihr Durchschnittsalter beträgt 86, aber ihre Geburtsjahrgänge 1939 bis 1940 gab es wegen des Kriegs eine Reduktion der Geburten von über 14 Prozent. Man kann augenblicklich sogar von einer Atempause sprechen, die in der Langzeitpflege ab 2030 vollständig vorbei sein wird. Die geburtenstarken Jahrgänge kommen erst noch. Wir müssen erkennen, dass wir Babyboomer selbst nicht ausreichend Kinder bekommen haben, die allein von ihrer Anzahl geeignet wären, den Generationsvertrag im Kontext des notwendigen Pflegepotentials zu erfüllen.

So bleibt es dabei: Wir brauchen die Pflegekräfte aus dem Ausland. Es macht es aber nicht leichter, wenn die Regierung uns mit dieser Diskussion unsensibel in die Parade fährt. Pflegeanbieter brauchen jetzt von politischer Seite Unterstützung durch Rahmenbedingungen, die die Integration erleichtern – und nicht populistische Sprüche, die das Gegenteil bewirken. Die Politik muss sich dieser Arbeit stellen, anderenfalls werden wir in der Pflege bald sehr alt aussehen.

Dass Interview führte Kirsten Gaede  

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