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9. August 2023 | 17:56 Uhr
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"Die Verhandlungen mit den Kassen sind kompletter Irrsinn"

Politik hat gute Absichten, aber denkt nicht zu Ende, sagt aiutanda-Gründer und Chef Christoph Schubert. Warum er für strenge Kontrollen ist, eine Aufweichung der fachlichen Zuständigkeiten in der Pflege und ein Ende der "Monsterbürokratie" mit den Kassen fordert, erzählt der Gründer und Chef des drittgrößten privaten Pflegeanbieters im letzten Teil des Interviews mit Care-vor9-Chefredakteur Thomas Hartung. 

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Was muss sich in der Pflege ändern?

Wir müssen ganz grundsätzlich die Diskussion führen, wie wir als Gesellschaft mit hilfsbedürftigen Menschen umgehen. Für mich ist es die Visitenkarte einer westlichen Demokratie, Menschen zu unterstützen, die alleine nicht mehr zurechtkommen. Dafür müssen wir auch Geld in die Hand nehmen – das ist einfach so. Innerhalb der Gesundheitshilfe müssen wir die fachlichen Grenzen neu definieren. Der Enkel darf seiner Oma eine Trombose-Spritze geben, ein einjährig examinierter Altenpfleger aber nicht. Das müssen wir aufweichen und mehr ärztliche Leistungen in den qualifizierten medizinischen Pflegebereich rücken, und mehr aus dem medizinischen qualifizierte Behandlungsbereich in den einjährig examinierten Bereich. Das würde uns eine ganze Menge helfen und Druck aus dem System nehmen.

Was stört Sie noch?

Wir in der Pflege sind immer ein bisschen depressiv drauf. Es ist alles ganz schlimm, und es wird schlecht bezahlt. Das stimmt einfach nicht. Eine Pflegekraft mit drei Jahren Ausbildung erhält zwischen 3.800 und 4.100 Euro. Das ist ein anständiges Gehalt. Es gibt nicht viele Ausbildungsberufe, die besser bezahlen. Viele Akademiker fangen nach ihrem Studium mit weniger an.

Die Politik muss gute Ideen bis zum Ende durchdenken.

Ihre Forderung an die Regierung?

Die Politik soll endlich mal gute Ideen bis zum Ende durchdenken und gescheit umsetzen.

Beispiel?

Tariftreuegesetz. Eine super Idee, Pflegekräfte endlich einheitlich zu bezahlen. Aber mit den Folgen hat die Politik die Einrichtungen alleingelassen. Es blieb völlig offen, wie sie das umsetzen sollen und woher das Geld kommt. Die Gehälter wurden erhöht, aber von den Kassen nicht refinanziert. Die Eigenanteile der Bewohner schießen nach oben und die Zahl der Sozialhilfeempfänger in den Heimen, die sich das nicht mehr leisten können, steigt. Das war aus meiner Sicht komplett dilettantisch gemacht und ist typisch für politische Entscheidungen im Gesundheitswesen.

Wo besteht noch Handlungsbedarf?

Bei den Verhandlungen mit den Kassen. Das ist kompletter Irrsinn. Wir führen pro Bundesland mit jeder Krankenkasse Einzelverhandlungen. Es gibt knapp 100 Kassen in Deutschland mal 16 Bundesländer mal 12.000 Pflegedienste – das ist die maximale Anzahl der Verhandlungen, die geführt werden müssen! Es geht aber noch weiter: Derselbe Mensch, der für eine Kasse in Sachsen verhandelt, hat am nächsten Tag in Thüringen alles vergessen und wir fangen von vorne an. Ich schätze mal, dass ein Drittel der Insolvenzen unter Pflegediensten auf diese Monsterbürokratie zurückzuführen ist. Wir als große Organisation kommen da noch irgendwie klar, aber die arme Schwester Erika gibt irgendwann frustriert auf.

Es gibt viele Scharlatane in unserer Branche.

Also weniger Regeln?

Nicht unbedingt. Ich bin durchaus dafür, dass man gewisse Themen besser regulieren sollte. Es gibt viele Scharlatane in unserer Branche, die ausschließlich auf Profit aus sind und betrügen. Solchen Geschäftemachern kommt die Aufsicht nicht auf die Schliche, wenn sie Kontrollen einen Tag vorher angekündigt. Das heißt nichts anderes als: Du hast jetzt 24 Stunden Zeit, Deine Bücher zu fälschen. Das ist ein Fehler im System. Digitalisierung könnte hier helfen. Etwa, in dem Mitarbeiter mit dem Finger Print auf ihrem iPad den Dienst bestätigen und nicht mit einem Handzeichen auf Papier.

Warum treffen die Proteste von Pflegekräften und die Warnungen von Verbänden vor dem Untergang der Pflege in Berlin auf taube Ohren?

Wir haben keine Lobby.

Warum nicht?

Der Markt ist unglaublich fragmentiert und die Berufsverbände agieren nicht immer glücklich. Am Ende muss man sich auf sich selbst verlassen und Dinge tun, die Sinn machen.

Spielt nicht auch eine Rolle, dass kirchliche und gemeinnützige Organisationen mit privaten Anbietern nicht an einem Strang ziehen, sogar gegeneinander arbeiten?

Da muss man sehen, wie das System entstanden ist. Bis 1992 gab es nur freigemeinnützige Träger in der Pflege. Dann wurde die Pflege für private Anbieter geöffnet. Viele Dorfschwestern aus der ehemaligen DDR und Krankenschwestern aus dem Westen haben daraufhin Pflegedienste gegründet. Das waren Menschen, die das Herz am rechten Fleck und eine guten Pflegeausbildung hatten. Ihr Start war aber schwierig, denn sie mussten Mehrwertsteuer in Rechnung stellen, die freigemeinnützigen Pflegedienste nicht. Da gab es viele Klagen vor Gericht bis Mitte der 90er. Daraus resultiert das schlechte Verhältnis.

Könnte man das nicht ändern?

Es gibt kein großes Forum, wo man ein Miteinander diskutieren könnte.

Gewerkschaften fordern sogar, mit privaten Unternehmen keine Versorgungsverträge mehr zu schließen. Was sagen Sie dazu?

Das ist sozialistisches Muskelspiel und vollkommen illusorisch. Es gibt sicher gute Argumente, das Pflegesystem staatlich zu organisieren. Ich glaube aber, dass wir für die riesigen Herausforderungen bei der Versorgung von hilfsbedürftigen Menschen privaten Unternehmergeist, deren Ideen und auch privates Geld brauchen. Eine Verstaatlichung des Gesundheitswesens würde uns nicht weiterbringen, im Gegenteil.

Schubert Christoph aiutanda Geschäftsführer 3

Christoph Schubert ist Gründer und Chef von aiutanda, dem drittgrößten privaten Pflegeanbieter in Deutschland. Die Ingenieur war Marineoffizier, Unternehmensberater bei McKinsey und Manager in der Automobilindustrie. Sein Einstieg in diese Pflege war die Gründung der Deutschen Fachpflege im Jahr 2011, die er nach fünf Jahren verkaufte. Nach einer Auszeit und Weltreise gründete Schubert 2017 mit vier Partnern aiutanda. Die schnell wachsende Gruppe mit derzeit 2.600 Mitarbeitern und mehr als 6.000 hilfsbedürftigen Kunden führt er alleine, die andere Gesellschafter sind nicht bei aiutanda aktiv. Die Zentrale der Gruppe liegt im Herzen von München, der Marienplatz ist gleich im die Ecke.

Zwei Teile des Interview mit Christoph Schubert sind bereits erschienen: "Wir wollen Probleme lösen und nicht Menschen aufbewahren" und "Wir haben in 180 Tagen 3.800 Bewerbungen bekommen".

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