"Leistungskürzungen erschüttern Vertrauen der Versicherten"
Pflegeleistungen beschränken – das war die letzten zwei Wochen vermehrt zu hören, etwa von der Wirtschaftsweisen Veronika Grimm. Dabei ging es vor allem um die Leistungszuschläge zu den Eigenanteilen von Pflegeheimbewohnern. Grimm und eine aktuelle Studie sagen, von den Zuschlägen würden vor allem die Wohlhabenden profitieren. Michaela Engelmeier (Foto), Vorstandsvorsitzende des Sozialverbands Deutschland (SoVD) hält im Interview mit Care vor9 dagegen.

Susie Knoll
Die Vorstandsvorsitzende des Sozialverbands, Michaela Engelmeier, fordert eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze statt Leistungskürzungen der Pflegeversicherung
Frau Engelmeier, es war doch nicht nur die Wirtschaftsweise Veronika Grimm, die die Leistungszuschläge kritisierte. Vorige Woche folgte das renommierte Iges Institut, das argumentierte, die Zuschläge verhinderten, dass Wohlhabende im Alter ihr Einkommen und Vermögen einsetzen, um Pflegeleistungen zu finanzieren. Ein weiteres Iges-Argument: Mitglieder mit geringerer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit würden dadurch dazu noch die Pflegeversicherung vergleichsweise stärker belastet.
Michaela Engelmeier: Es stimmt, dass jeder Versicherte in der stationären Pflege je nach Aufenthaltsdauer Anspruch auf die gleichen prozentualen Leistungszuschläge hat, ob vermögend oder mit kleiner Rente. Eine Abschaffung der Leistungszuschläge würde aber wiederum vor allem Heimbewohnerinnen und Heimbewohner mit kleiner und mittlerer Rente erheblich treffen, nicht vermögende Pflegebedürftige.
Einen solidarischen Ausgleich bei der Kostenbelastung erreicht man über die Beitragsbemessung. Die Beitragsbemessung in der Pflegeversicherung richtet sich im Wesentlichen nach dem Einkommen, wobei die Höhe des Beitrags auch von der Anzahl der Kinder abhängt. Um vermögende Versicherte angemessener an den Kosten der Pflegeversicherung zu beteiligen, sind wir vom SoVD der Meinung, dass die Beitragsbemessungsgrenze für die gesetzliche Kranken- und soziale Pflegeversicherung zumindest auf das Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung angehoben werden müsste.
Vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) kam im März auch schon Kritik am Pflegegeld: Die Verwendung des Pflegegeldes sei nicht zweckgebunden und es ist völlig ungeklärt, ob der Haushalt eines Pflegebedürftigen nicht in der Lage ist, die Pflege aus eigener Tasche zu zahlen. Ist das nicht ein Argument, das auch einen Sozialverband überzeugen könnte?
Wir sagen: Leistungen sollten sich immer am individuellen Pflegebedarf orientieren, das heißt, nach individuellem Bedarf – dann können bedarfsdeckende Sachleistungen gezielt eingesetzt werden. Sachleistungen in der Pflege sind Leistungen, die eine Pflegekasse direkt an einen ambulanten Pflegedienst zahlt, um häusliche Pflege zu finanzieren. Sie setzen aber auch voraus, dass professionelle Pflege ausreichend und wohnortnah überhaupt verfügbar ist. Das ist leider nicht der Fall. Größtenteils erfolgt die häusliche Pflege überwiegend durch pflegende An- oder Zugehörige ohne Inanspruchnahme von ambulanten Pflegediensten. Laut Pflegestatistik wurden 2023 allein 86 Prozent der Pflegebedürftigen zuhause versorgt, davon 67 Prozent durch pflegende Angehörige.
In einem Interview mit dem Merkur haben Sie Diskussionen über Leistungskürzungen kürzlich verantwortungslos genannt – ist das nicht etwas übertrieben?
Nein, ist es nicht. Die Debatte um Leistungskürzungen erschüttert noch mehr Vertrauen der Versicherten in die Pflegeversicherung. Leistungskürzungen treffen vor allem Betroffene mit weniger Geld hart. Sie können zudem zur Verschlechterung der Pflegequalität führen. Und: Dies hat auch Auswirkungen auf die Attraktivität der Pflegeberufe, wenn noch weniger investiert wird, und wäre ein falsches Signal angesichts des Personalmangels.
Bevor also überhaupt an Leistungskürzungen zu denken ist, muss zuerst einmal die Finanzierung solidarischer und systemgerecht ausgestaltet werden – zum Beispiel durch einen angemessenen und dynamisierten Bundeszuschuss für alle versicherungsfremden Leistungen, die vollständige Corona-Rückzahlung, durch die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze und durch einen Finanzausgleich zwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherung.
Das Interview führte Kirsten Gaede