Sind sinkende Demenzdiagnosen ein Grund zur Hoffnung?
In letzter Zeit ist es häufiger zu hören: Hausärzte stellen deutlich weniger Demenzdiagnosen. Studien zeigen sinkende Inzidenzen und Prävalenzen, vor allem bei jüngeren älteren Menschen und Frauen. Doch Altenpflegeexperten warnen vor voreiligen Schlüssen. Der Rückgang betrifft nur bestimmte Altersgruppen und die absolute Zahl der Betroffenen dürfte weiter steigen. Auch die ärztliche Versorgung könnte dabei eine Rolle spielen.
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Mit dem Alter steigt das Risiko für Demenz. Da die Lebenserwartung steigt, glauben Altenpflegeexperten auch nicht an einen Rückgang
Die Zahl der Demenzdiagnosen geht zurück. Was vor wenigen Jahren noch als unvorstellbar galt, zeigen aktuelle vertragsärztliche Daten deutlich: Zwischen 2015 und 2022 sank die Zahl der Neuerkrankungen (Inzidenz) um 26 Prozent und die Gesamtprävalenz um 18 Prozent, wie die Ärzte Zeitung berichtet. Erstmals verringerte sich sogar die Gesamtzahl der dokumentierten Demenzkranken – von 1,56 Millionen im Jahr 2015 auf 1,43 Millionen im Jahr 2022.
Rückgang vor allem in Hausarztpraxen
Diese Entwicklung betrifft vor allem Hausarztpraxen. Fachärzte dokumentierten im selben Zeitraum hingegen eher mehr Demenzfälle. Bernhard Michalowsky vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen weist darauf hin, dass Diagnosen in zwei von vier Quartalen bestätigt sein mussten, um in die Daten einzugehen. Das mittlere Alter der neu diagnostizierten Patienten stieg leicht, ebenso das Alter derer, bei denen bereits eine Demenz diagnostiziert wurde.
Bemerkenswert sei, so Michalowsky auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie (DGPPN) Ende November, dass der Rückgang überwiegend Frauen und jüngere Altersgruppen betraf. Besonders deutlich fiel er in sozioökonomisch benachteiligten Regionen aus – dort halbierte sich die Differenz zu wohlhabenderen Regionen. Ob dies an besser kontrollierten Risikofaktoren oder einer sich verschlechternden Versorgung liegt, muss noch untersucht werden, so der Versorgungsforscher von der Universität Greifswald.
Behandlung von Demenz-Risikofaktoren hat sich verbessert
Die Daten passen zu internationalen Trends. In Industrieländern sinkt die altersspezifische Inzidenz seit mehr als einem Jahrzehnt. Als mögliche Ursachen gelten eine bessere Behandlung von Hypertonie, Diabetes oder hohen Cholesterinwerten, weniger Rauchen und Alkohol sowie eine gesündere Ernährung. Gleichzeitig ist ein deutlicher Anstieg der Diagnosen leichter kognitiver Störungen (MCI) zu verzeichnen – von 190.000 im Jahr 2015 auf 300.000 im Jahr 2022.
Ob Veränderungen in der Diagnostik eine Rolle spielen, ist unklar. Hausärzte könnten weniger Zeit haben oder geringere Vergütungsanreize erhalten, vermutet Michalowsky. Auch regionale Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung könnten Einfluss nehmen.
Einordnung aus der Altenpflege
Jan Grabow, der bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Curacon den Bereich Altenpflege verantwortet, hält es für plausibel, dass das relative Risiko in einzelnen Altersgruppen sinkt. Er verweist auf Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI), die zwischen 2017 und 2022 eine leicht rückläufige altersstandardisierte Prävalenz zeigen. Für Menschen ab 40 Jahren lag sie 2022 bei 2,8 Prozent, bei den über 65-Jährigen bei 6,9 Prozent.
Grabow warnt jedoch gegenüber Care vor9 vor falschen Erwartungen. Die Abnahme sei gering und betreffe nur das Verhältnis innerhalb der Altersgruppen. "Mit Blick auf den demografischen Wandel ist jedoch zukünftig damit zu rechnen, dass die Zahl der von Demenz Betroffenen zunimmt." Aktuell leben rund 1,8 Millionen Menschen mit Demenz; Prognosen gehen bis 2050 von 2,7 bis 2,8 Millionen aus.
Es gibt ein "Einerseits und Andererseits" mit der Demenz
Einerseits sprechen viele Daten dafür, dass "junge Alte" heute ein geringeres Demenzrisiko haben als frühere Jahrgänge. Auch der Rückgang in den Hausarztpraxen deutet auf Veränderungen im Gesundheitsverhalten und bei Risikofaktoren hin. Andererseits könnten Versorgungsunterschiede zu weniger Diagnosen führen, nicht zu weniger Erkrankungen. Und trotz sinkender altersspezifischer Raten wächst die Zahl der Betroffenen weiter, da die Bevölkerung altert.
Kirsten Gaede