Was jeder Pflegeunternehmer über Insolvenzen wissen sollte
Eine Insolvenz ist für Pflegeanbieter ein Worst-Case-Szenario. Erhalten sie jedoch ein Schutzschirmverfahren und können eine Regelinsolvenz vermeiden, gibt es Hoffnung. Doch welche Vorteile sind es genau die dieses Verfahren mit sich bringt? Und: Welche Voraussetzung müssen erfüllt sein? Welche Fehler gilt es zu vermeiden? Diese und andere Fragen beantworten Gregor Bräuer (Foto), Fachanwalt für Insolvenzrecht, und Sanierungsberater Nicolas Krämer im Interview mit Care vor9.
Streitbörger
Gregor Bräuer begleitet unter anderem das Insolvenzverfahren der Pflegedienstkette Kenbi
Care vor9: In der Vorstellung vieler Pflegeanbieter bedeutet eine Insolvenz: Der Betrieb wird aufgelöst oder übernommen, der Betreiber kann von Glück sprechen, wenn er nicht auf einer enormen Schuldenlast sitzen bleibt. Sie weisen immer wieder darauf hin, dass es so nicht notwendigerweise laufen muss, dass eine Insolvenz auch die Chance eines Neuanfangs bietet. Können Sie das erklären?
Krämer: Neben der Regelinsolvenz gibt es auch das Schutzschirmverfahren, das für den Inhaber die Möglichkeit bietet, das Unternehmen neu auszurichten. Zu keinem anderen Zeitpunkt gibt es so viel unternehmerische Beinfreiheit und so viele Möglichkeiten zur Sanierung. Der Pflegeanbieter kann sich beispielsweise leichter von Mitarbeitern trennen, wenn auch – das möchte ich dazu sagen – gerade das Halten von Leistungsträgern ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist. Aber auch alte Verträge, die man vielleicht gerade im Eifer des Wachstumskurses abgeschlossen hat, lassen sich viel leichter auflösen. Auch können größere Unternehmen eventuell toxische Standorte schließen.
Hinzu kommt: Sie bekommen in der Phase nach der Insolvenzantragstellung über einen Zeitraum von drei Monaten die Löhne und Gehälter von der Bundesagentur für Arbeit bezahlt.
Mit diesen Möglichkeiten gewinnt ein Unternehmen Zeit, die strategische Neuausrichtung voranzutreiben und die Prozesse in den Griff zu bekommen. Oft geht es darum, die Hauptkrisenursachen zu identifizieren, und dafür zu sorgen, dass sich Fehler künftig nicht wiederholen.
Ein weiterer wichtiger Punkt: Man ist primär nicht mehr den Gesellschaftern verpflichtet.
Was heißt das genau: den Gesellschaftern nicht mehr verpflichtet zu sein?
Krämer: Im Mittelpunkt stehen die Gläubiger, diejenigen, die offene Forderungen haben. Es gibt einen Gläubigerausschuss, in dem die wichtigsten Gläubiger vertreten sind. Es geht bis zu den Banken, in der Regel ist auch die Bundesagentur für Arbeit beteiligt. Das kann natürlich dazu führen, dass im Rahmen eines Transaktionsverfahrens, eines M&A-Prozesses, neue Gesellschafter gefunden werden. Das bedeutet dann, dass diejenigen, die originär vielleicht die Idee hatten, einen ambulanten Pflegedienst mit ganz viel Digitalisierung und dem Ziel der Revolution des Pflegemarktes auf den Weg zu bringen, auf einmal Anteile abgeben müssen, entweder alle oder einen Teil. Eine Insolvenz ist also definitiv kein Kindergeburtstag, denn sie kann tatsächlich mit signifikanten Einschränkungen einhergehen.
Sprechen wir in dem Fall, den sie gerade geschildert haben, immer noch von einem Schutzschirmverfahren?
Krämer: Ja, absolut. Auch in einem Schutzschirmverfahren kann es zu einem Anteilsverkauf oder zu Veränderungen in der Gesellschafterstruktur kommen. Entscheidend ist: Der Betrieb läuft weiter, die Sanierung steht im Mittelpunkt und das Management behält zunächst die Zügel in der Hand. Aber man darf sich nichts vormachen – der Schutzschirm schützt nicht vor schmerzhaften Einschnitten. Er schafft lediglich den Rahmen, um die Sanierung geordnet und unter eigener Regie umzusetzen.
Welche Möglichkeiten der Sanierung sieht die Insolvenzordnung vor? Können Sie vielleicht auch erklären, wie sich diese im Alltag eines insolventen Pflegeanbieters bemerkbar machen?
Bräuer: Die Insolvenzordnung enthält zahlreiche Instrumente, die eine Sanierung ermöglichen. Wir unterscheiden zwischen leistungswirtschaftlicher und finanzwirtschaftlicher Sanierung. Finanzwirtschaftliche Sanierung bedeutet, dass Verbindlichkeiten reduziert oder beseitigt werden. Dadurch können zugleich auch leistungswirtschaftlich Verbesserung erzielt werden. Ein Beispiel wäre ein aufgeblähter Fuhrpark: Da sind im Zuge des Wachstums möglicherweise viele Fahrzeuge gemietet oder geleast worden. Gerade Leasingverträge haben oft lange Laufzeiten. Diese können im eröffneten Insolvenzverfahren unverzüglich beendet werden. Dadurch lassen sich überflüssige Kostenpositionen ad hoc abbauen.
Ist es wirklich so einfach, aus den Leasingverträgen rauszukommen?
Bräuer: Ja, Sie identifizieren die Fahrzeuge, die nicht mehr benötigt werden, und erklären dem Leasinggeber, dass die zugehörigen Leasingverträge nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht mehr erfüllt werden. Gesetzliche oder vertragliche Friste sind da nicht einzuhalten. In der Praxis holt der Leasinggeber die Fahrzeuge zurück und nimmt mit seinen Forderungen als einfacher Gläubiger lediglich noch an einer späteren Verteilung der Insolvenzmasse teil; unmittelbare Zahlungspflichten des insolventen fortgeführten Unternehmens entfallen aber. Die rechtliche Möglichkeit, ungünstige – weil teure und nicht benötigte – Verträge mit sofortiger Wirkung oder mit stark verkürzten Sonderkündigungsfristen zu beenden, trägt zu einer erheblichen Entlastung der Kostenseite bei.
Gilt das auch für Mietverträge?
Bräuer: Ja, auch Mietverhältnisse über Immobilien können im Insolvenzverfahren mit einer Frist von drei Monaten gemäß Paragraf 109 Insolvenzordnung gekündigt werden – unabhängig von der vertraglich vereinbarten Laufzeit. Wenn bestimmte Standorte strukturell defizitär sind und dauerhaft nur durch andere Standorte querfinanziert wurden, können diese im Rahmen einer Sanierung geschlossen werden. Dadurch lassen sich Fixkosten nachhaltig senken.
Auch Arbeitsverhältnisse können im Insolvenzverfahren unter erleichterten Bedingungen beendet werden. Im Pflegebereich betrifft das selten das Pflegepersonal, aber in der Verwaltung beobachten wir regelmäßig Überkapazitäten. Auch in diesem Jahr habe ich Unternehmen begleitet, in denen die administrativen Strukturen deutlich überbesetzt waren – da arbeiteten teilweise zehn bis fünfzehn Personen in Bereichen, die effektiv von einem Bruchteil hätten abgedeckt werden können. Eine Reduzierung dieser Bereiche führt natürlich zu erheblichen Einspareffekten.
Wann ist eine Insolvenz in Eigenverwaltung möglich?
Bräuer: Man muss sagen, dass die klassische Regelinsolvenz, also die Fremdverwaltung durch einen (vorläufigen) Insolvenzverwalter, weiterhin den Großteil der Verfahren ausmacht. Der Gesetzgeber hat die Zugangsvoraussetzungen für die Eigenverwaltung zuletzt deutlich verschärft – insbesondere durch das Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz, kurz: SanInsFoG. Ziel ist, dass nur noch Unternehmen, die geordnet und transparent arbeiten, Zugang zur Eigenverwaltung erhalten. Das ist aus meiner Sicht auch nachvollziehbar.
Voraussetzung für eine Eigenverwaltung ist unter anderem, dass das Unternehmen eine ordnungsgemäße Buchführung vorlegt und keine Anhaltspunkte für pflichtwidriges Verhalten bestehen. Das Insolvenzgericht prüft insbesondere, ob die Eigenverwaltung im Interesse der Gläubiger ordnungsgemäß durchgeführt werden kann. Wenn Hinweise auf eine verspätete Insolvenzantragstellung, also Insolvenzverschleppung, oder Vermögensverschiebungen zum Nachteil der Gläubiger vorliegen, spricht das gegen die Anordnung der Eigenverwaltung. In solchen Fällen wird das Gericht in der Regel eine Fremdverwaltung anordnen.
Lesen Sie morgen die Fortsetzung des Interviews, in dem es vor allem um die Insolvenzverschleppung geht.
Gregor Bräuer arbeitet seit fast 20 Jahren als Fachanwalt für Insolvenz- und Sanierungsrecht. Als Partner der Anwaltskanzlei Streitbörger in Düsseldorf hat er unter anderem die Insolvenzverfahren von Mister Minit und der deutschen Tochtergesellschaft des schwedischen Modekonzerns Gina Tricot begleitet. Außerdem verantwortet er das Insolvenzverfahren der Pflegedienstkette Kenbi.
Nicolas Krämer ist Vorstandsvorsitzender der Krankenhäuser und Pflegeanbieter spezialisierten Sanierungsberatung HC&S in Düsseldorf. Er arbeitete in Management-Positionen in der Kaiserswerther Diakonie Düsseldorf, im Marienkrankenhaus Soest und im kommunalen Rheinland Klinikum.
Das Interview führte Kirsten Gaede
In Teil 1 des Interviews erklären Gregor Bräuer und Nicolas Krämer, was die häufigsten Gründe für Insolvenzen in der Pflegebranche sind.