"Der direkte Kontakt der Verbände zur Politik fehlt heute"
Seit der Pandemie beobachtet Thomas Knieling (Foto) vom Trägerverband VDAB eine zunehmende Distanz zwischen Politik und Pflegeverbänden. Anhörungen fänden oft digital und unter Zeitdruck statt, Debatten würden selten. Für den Geschäftsführer geht es um mehr als Umgangsformen. Er warnt vor einer "schleichenden Entwertung" der Selbstverwaltung und fordert mehr Austausch auf Augenhöhe. Im Interview mit Care vor9 beschreibt er, wie sich der Umgang verändert hat – und sich auf die gesamte Pflege auswirkt.
VDAB
Thomas Knieling ist seit 2009 Geschäftsführer des Verbands Deutscher Alten- und Behindertenhilfe
Handlungsbedarf erkennen: WLAN-Zugang wird zur Pflicht
Seit der Corona-Pandemie ist klar, wie wichtig Internetzugang für soziale Kontakte vulnerabler Gruppen ist. Laut MDK (2023) boten nur 63 Prozent der Heime Bewohnern Internet im Zimmer. Bis 2025 soll eine bundesweite Regelung Internet und WLAN in Pflegeheimen verpflichtend machen. Mit Business WiFi von Vodafone steht eine einfache Lösung aus einer Hand bereit. Care vor9
Herr Knieling, Verbände stehen im Ruf, bequem im Warmen zu sitzen und ab und zu ein Statement zu verschicken. Was antworten Sie Menschen aus der Branche, die so reden?
Thomas Knieling: Den Eindruck kann nur jemand gewinnen, der noch nie direkt mit Pflegeverbänden zu tun hatte. Über 90 Prozent der Einrichtungen sind organisiert – das wären sie nicht, wenn es keinen Nutzen brächte. Wir sind Teil der Selbstverwaltung, schließen Verträge, die sofort verbindlich werden. Wir erfüllen also eine wichtige Funktion als Bindeglied zwischen den Pflegeunternehmen und den Gesetzgebern beziehungsweise den Kostenträgern. Gerade ambulante Dienste hängen mit ihren Vergütungen faktisch am Verband, der kollektive Verhandlungen mit den Kassen führt. Wer das allein mit den Kassen verhandeln muss, bekommt am Ende schlechte Preise. Das ist einfach Realität.
Unsere Aufgabe ist es nicht, im Warmen zu sitzen, sondern durch individuelle Begleitung und engagierte Interessenvertretung dafür zu sorgen, dass die Einrichtungen ihre Arbeit unter immer schwierigeren Rahmenbedingungen überhaupt leisten können. Dazu passt, dass wir über unsere Beratungsgesellschaft inzwischen jährlich über 1.000 einrichtungsindividuelle Verhandlungen mit Kostenträgern führen und uns auch in der berufsständischen Ausbildung von Pflegekräften mit eigenen Schulen mit über 1.000 Schülern engagieren.
Was macht Ihre Arbeit denn konkret aus?
Wir sind zum einen kompetenter Partner unserer Mitglieder im Alltagsgeschäft. Das geht von einer schnellen Auskunft zu Einzelfragen bis hin zu Entwicklung ganzer Strategien für das Unternehmen. Zum anderen sind wir streitbarer Anwalt für die Interessen der privaten professionellen Pflege. Aktuell stehen wir wieder vor einer Pflegereform, die in Gesetzen vollzogen werden wird.
Unsere Rolle bei Gesetzgebungsverfahren sehen wir nicht in wohlfeilen juristischen Abwägungen und Expertisen. Wir unterziehen Gesetzentwürfe stattdessen einem Praxischeck und fragen: Was bedeutet das für ihren Alltag? Wo hakt es? Was ist praxisfern? Das ist unser Markenzeichen als VDAB. Wir machen uns die Interessen unserer Mitglieder zu eigen und versuchen nicht, Mitglieder von unserer Sicht der Dinge zu überzeugen. Politiker bekommen oft nur abstrakte Konzepte vorgelegt. Wir sagen ihnen, was wirklich passieren würde, wenn eine Regelung so kommt, wie sie im Entwurf steht.
Wie groß ist Ihr Einfluss auf die Politik in Berlin?
Das Verhältnis zwischen uns als Verband und Politik ist deutlich distanzierter geworden. Vor der Pandemie fanden Anhörungen im Ministerium statt, man saß zusammen, hat diskutiert, Zeile für Zeile durchgearbeitet. Das war ein Austausch, kein Lobbyismus. Heute läuft vieles digital – der direkte Kontakt der Verbände zur Politik fehlt heute.
Warum hat sich das so entwickelt?
Das liegt an der Geschwindigkeit der Gesetzgebungsverfahren. Das Stakkato ist brutal. Manchmal hatten wir zwei Arbeitstage, um zu einem Gesetzentwurf Stellung zu nehmen. Da wird alles auf Effizienz getrimmt – und Effizienz heißt dann: Videokonferenz statt echter Anhörung. In so einem Tempo können alle Beteiligte keine Qualität liefern. Das entwertet auch ein Stück die Selbstverwaltung. Die Einbindung der Selbstverwaltung ist im Pflegebereich kein freiwilliges Zugeständnis, sondern ein gesetzlich gewollter Teil eines Gesetzgebungsverfahrens. Das garantiert Feedback aus der Praxis und ermöglicht den Verbänden auch die Übersetzung in die Fläche. Das nützt allen.
Wird denn zugehört, wenn Sie Stellung nehmen?
Gehört werden wir schon. Aber ob man das dann politisch auch verwertet, ist die andere Frage. Auf Arbeitsebene der Ministerien abseits von Stellungnahme-Verfahren funktioniert es – wichtig sind hier die belastbaren Kontakte, die wir stets pflegen. Trotzdem haben nicht mehr das Gefühl, dass wir politisch so viel bewegen können, weil die politische Willensbildung bereits weitgehend abgeschlossen ist.
Wie erklären Sie sich das?
Die Prozesse sind gedrängt, politisch und zeitlich. Wenn ein Gesetz in Wochen durchgepeitscht wird, bleibt keine Möglichkeit, an Stellschrauben zu drehen. Die Branche wird von der Menge an Reformen überrollt und viele unserer Mitglieder würden sich nach einer grundsätzlichen Reform nichts mehr wünschen als eine Reformpause. So hätten die Unternehmen Zeit für die Umsetzung. Politik könnte dann nach einiger Zeit evaluieren, was funktioniert hat und was nicht. In der Vergangenheit überholten sich die Reformen, ohne alles umgesetzt, geschweige denn analysiert wurde.
Sie klingen ernüchtert.
Ja, weil die politischen Prozesse oft nicht mit den Erwartungen und tatsächlichen Anforderungen unserer Mitglieder Schritt halten können. Nehmen wir das Beispiel Tarifpflicht. Natürlich ist es positiv, dass Löhne von Pflegekräften steigen und die Refinanzierung grundsätzlich gesichert ist. Wenn sich aber herausstellt, dass die gesetzlichen Verfahren zu Vergütungsanpassungen nicht praktikabel sind, zu langen Verfahren und schließlich zu Insolvenzrisiken führen, muss schnell gegengesteuert werden. Das gelingt in der Regel nicht oder nicht zeitnah. Den Frust unserer Mitglieder kann ich dann gut nachvollziehen und nur den politischen Entscheidungsträgern widerspiegeln. Der Gesamteindruck, dass Vieles gut gemeint, aber nicht gut gemacht ist, hat sich verstärkt.
Was tut der VDAB gegen diese zunehmende Distanz?
Wir versuchen, den direkten Austausch wieder zu stärken. Videokonferenzen können persönliche Gespräche nicht ersetzen. Aber im Moment sind die Abläufe in der Politik wieder eng getaktet, wie beim Zukunftspakt Pflege. Trotzdem bleiben wir dran. Das System funktioniert langfristig nur, wenn Praxis und Politik miteinander sprechen.
Sie sprechen öffentlich immer wieder an, dass private Träger pauschal kritisiert werden. Warum trifft Sie das so?
Weil diese pauschale Kritik ungerecht ist. Der damalige Bundesgesundheitsminister Lauterbach nannte es sei einen Fehler, Private überhaupt in die Pflege zugelassen zu haben und der frühere SPD-Fraktionsvorsitzende Mützenich flankierte die Aussage auch noch. Verdi und manche Sozialverbände sehen die Privaten ähnlich kritisch.
Das sind aber Nebelkerzen. Private Einrichtungen bilden zu mehr als die Hälfte die Angebotslandschaft und leisten einen unverzichtbaren Beitrag zu Versorgungssicherheit. Viele haben bei privaten Einrichtungen auch immer gleich große Konzerne vor Augen, die angeblich nur Gewinnmaximierung betreiben.
Tatsache ist, dass die private professionelle Pflege vom regional ansässigen inhabergeführten Familienunternehmen geprägt ist. Unsere Mitglieder sind teils schon in zweiter Generation Pflegeunternehmer mit Leib und Seele. Sie haben es nicht verdient, in einer wie immer gearteten Schwarze-Schafe-Debatte diskreditiert zu werden. Ganz im Gegenteil: Politik, Kostenträger und die gesamte Gesellschaft täte gut daran, ab und zu Danke zu sagen. Danke dafür, dass Unternehmen und Mitarbeitende täglich allen Widrigkeiten trotzen. Der Applaus aus Corona-Tagen ist längst verhallt.
Manche sagen, private Träger seien nur am Gewinn interessiert.
Das ist ein völlig verzerrtes Bild. Jedes Unternehmen muss Gewinne machen, unabhängig ob der Betreiber privat-gewerblich ist oder Wohlfahrtsträger. Ohne Überschüsse keine wirtschaftliche Stabilität und keine Investitionen. Deshalb beantwortet sich die Frage, ob man mit Pflege Geld verdienen darf, eigentlich von allein. Wir sollten die ideologischen Grabenkämpfe um den besseren oder schlechteren Pflegeanbieter endlich bleiben lassen und uns klarmachen, dass wir alle brauchen werden, um die großen demografischen Herausforderungen in der Pflege meistern zu können.
Das Interview führte Kirsten Gaede