"Pflegegrad-Rückstufung stößt bei Kassen auf Widerstand"
Im Benevit-Haus Breisgau zeigt sich, was aktivierende Pflege bewirken kann: Von 56 Bewohnern können 18 im Pflegegrad zurückgestuft werden. Darüber sollten sich die Pflegekassen freuen. Doch sie scheinen irritiert, meint Benevit-Chef Kaspar Pfister. Das überrascht umso mehr, als in der Pflegepolitik gerade so viel über Prävention diskutiert wird wie nie zuvor.
Benevit
Fast jeder dritte Bewohner im Benevit-Haus in Breisgau kann durch aktivierende Pflege auf einen niedrigeren Pflegegrad zurückgestuft werden
Pfister führt die positive Entwicklung auf die aktivierende Pflege zurück: Die Bewohner gestalten ihren Tagesablauf mit, kochen gemeinsam und übernehmen – soweit möglich – Verantwortung für alltägliche Aufgaben. Über 200 Bewohner gibt es insgesamt in den 27 Benevit-Häusern, die regelmäßig zurückgestuft werden können – und auch sollten, meint Pfister.
"Wir stoßen mit unserem Anliegen bei den Kassen und dem medizinischen Dienst permanent auf Widerstand. Eine Pflegegrad-Rückstufung ist unüblich und außerhalb der Vorstellung", kritisiert Pfister die Haltung der Kassen. "Sie gehen davon aus, dass Pflegebedürftige grundsätzlich abbauen, und es deshalb nur Höherstufungen gibt. Eine Rückstufung passt nicht in ein Denkmuster, das Pflegebedürftigkeit grundsätzlich als Abwärtsbewegung begreift. Jede Rückstufung wäre demzufolge nur kurzfristig und macht darum schlichtweg zu viel Arbeit."
Die Rückstufung ist auch deshalb nicht leicht, weil nur die Bewohner selbst oder Angehörigen beziehungsweise Betreuer den Antrag auf Begutachtung stellen können. Zwar bitten die Benevit-Einrichtungen die Angehörigen, ihnen eine Vollmacht für die Antragstellung auszustellen. Doch das Interesse der Angehörige ist nicht groß, weil die Eigenanteile sich dadurch nicht reduzieren. "Aber wir bleiben sowohl gegenüber Angehörigen als auch Kassen hartnäckig", sagt Pfister.
Möglicherweise ergeben sich durch die Rückstufung sogar wirtschaftliche Vorteile
Da stellt sich für Betreiber ganz allgemein aber die Frage, ob es wirtschaftlich ist, Bewohner in so gute Verfassung zu bringen, dass sie heruntergestuft werden. Für Benevit-Chef Pfister steht zunächst fest: Hat ein Bewohner das Potenzial, sich zu verbessern, muss es genutzt werden. Hinzukommt, dass er die wirtschaftlichen Nachteile für überschaubar hält: "Natürlich hat es Auswirkungen auf die Erlöse und den Personalschlüssel, wenn Bewohner zurückgestuft werden. Aber wir haben ohnehin ständig Schwankungen, wenn neue Bewohner einziehen."
Pfister sieht noch eine andere Chance: "Was nicht vergessen werden darf, Rückstufungen heißt nicht nur Verbesserung der Lebensqualität, sondern auch erhebliche Einsparungen für das überlastete Gesundheitssystem. Würde der Durchschnittswert von Benevit mit 30 Prozent Rückstufungen zu Grunde gelegt, könnte die Pflegeversicherung rund eine Milliarde Euro pro Jahr einsparen."
Vielleicht lohnt sich die Zurückstufung aber sogar? Martin Heckelmann von der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin hält das für möglich. Er leitet ein Projekt, das die rehabilitative Pflege des Trägers Domino World in Berlin aus pflegefachlicher, betriebswirtschaftlicher und juristischer Perspektive untersucht. "Es liegt auf der Hand, dass der Pflegealltag durch den rehabilitativen Ansatz effizienter wird: Durch das Coaching werden viele Aufgaben der Grundpflege und Betreuung überflüssig, wie die Begleitung zur Toilette oder die Unterstützung beim Anziehen", sagt Heckelmann.
Außerdem gibt es für Domino World noch einen mittelbaren, in Zeiten der Personalknappheit durchaus wesentlichen Effekt, den auch Pfister bestätigt: Die Fluktuation ist gering, sie liegt weit unter den üblichen 30 Prozent.
Kirsten Gaede