Studie sieht Sozialstaat in Deutschland vor dem Kollaps
Pflegenotstand, Kita-Krise, Krankenhaussterben – der Sozialstaat in Deutschland steht auf der Kippe. Das ist eine Gesellschafts- und eine Beschäftigungskrise. Denn im sozialen Sektor arbeiten rund drei Millionen Menschen, fast viermal so viele wie in der Autoindustrie. Was passiert, und was in Politik und Gesellschaft passieren müsste, um den Kollaps zu verhindern, beschreibt DRK-Manager Joß Steinke (Foto) und zwei Co-Autoren in einem neuen Buch.
"Wir haben es bisher nicht geschafft, der Öffentlichkeit und der Politik zu vermitteln, was sich da gerade abzeichnet", sagt DRK-Manager Joß Steinke, einer der Autoren. "Das größte Risiko ist, dass grundlegende Leistungen der sozialen Daseinsvorsorge, die wir in unserem Wohlfahrtsstaat als selbstverständlich erachten, wegbrechen." Pflegebedürftige Menschen würden heute schon immer öfter alleine gelassen. Menschen in strukturschwachen Regionen, Alleinerziehende und Familien mit vielen Kindern seien die Verlierer der Entwicklung sein. Steinke: "Es bröckelt überall."
Den Menschen sagen, was künftig geht und was nicht
"Wenn jedoch zunehmend die Menschen fehlen, die Hilfe anbieten, pflegen, betreuen und beraten, dann klaffen die Ansprüche und Erwartungen, die wir über die Jahre an den sozialen Sektor aufgebaut haben, und das, was in diesem Sektor überhaupt noch leistbar ist, zunehmend auseinander", legt Co-Autor Christian Hohendanner vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) nach. "Diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit werden wir in Zukunft immer häufiger spüren." Es sei an der Zeit, den Menschen klarzumachen, was der Wohlfahrtsstaat künftig leisten könne und was nicht. Versorgungslücken müssten benannt und die Gesellschaft darauf vorbereitet werden.
Politik schwört Wohlfahrtsverbände auf Sparen ein
Auch Steinke sieht keine Besserung. "Ich erwarte in den nächsten Jahren leider eher eine Verschärfung der Probleme." Die Wohlfahrtsverbände würden von der Politik schon jetzt auf Sparen eingeschworen. Der Bund beschließe Gesetze, die ihn nichts kosten würden, zum Beispiel Tarifpflichtkonzepte oder Anwerbeprogramme im Ausland. Solche Hausmittel lösten aber die Probleme nicht. "Wenn wir eine nachhaltige, gute soziale und pflegerische Versorgung haben wollen, dann müssten dazu allerdings erheblich mehr Mittel aus Sozialversicherungen und Steuereinnahmen aufgebracht werden", sagt Steinke. Es sei aber nicht realistisch, dass das jemals ein Wahlkampfthema werde.
Pflege muss auch ohne Homeoffice attraktiv sein
Im Wettbewerb um Arbeitskräfte habe der soziale Sektor im Vergleich zu anderen Branchen strukturelle Nachteile. Pflege- und Betreuungsbedarfe oder gesundheitlichen Notlagen ließen sich nicht nur in der Kernarbeitszeit von 9 bis 17 Uhr oder im Homeoffice erledigen. "Wenn wir wollen, dass Menschen weiterhin bereit sind, zu ungünstigen Arbeitszeiten oder in Schichtarbeit zu arbeiten, müssen wir das als Gesellschaft entsprechend noch mehr honorieren", so Steinke. Dabei gehe es nicht ausschließlich um Geld. "Wir sehen in unseren Analysen, dass generell Arbeitsbedingungen und Belastungen und die Anerkennung und Wertschätzung der eigenen Arbeit eine wichtige Rolle spielen."
Weiße Flecken in der Versorgung sichtbar machen
Trotz des pessimistischen Blicks auf die Politik zeigen Steinke, Hohendanner und Jasmin Rocha, Leiterin des DRK Data Science Hub, in ihrem Buch Handlungsoptionen auf. Zunächst sollen die Angebotsstrukturen bundesweit erfasst werden, damit weiße Flecken in der Versorgung sichtbar würden. Träger von Einrichtungen und Diensten sollten Themen in den Blick nehmen wie Weiterbildungen und mehr Mitgestaltung für die Beschäftigten. Die Dienstplangestaltung in Pflegeeinrichtungen sei hierfür ein Beispiel. Im Vordergrund sollte dabei stehen, wie vorhandene Mitarbeiter gebunden und Teilzeitkräfte zum Aufstocken überzeugt werden können.
Das Buch Vor dem Kollaps!? Beschäftigung im sozialen Sektor kann online kostenlos gelesen werden. Die einzelnen Kapitel der 111 Seiten umfassenden Studie sind als PDF downloadbar.
Thomas Hartung