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5. Mai 2024 | 20:08 Uhr
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Was macht Ihr stambulantes System anders, Herr Pfister?

Der Bundesgesundheitsminister will die "stambulante" Versorgung als Regelleistung einführen. Doch wie funktioniert diese Kombination von stationär und ambulant und was sind die Voraussetzungen? Das erklärt Stambulant-Erfinder und Benevit-Chef Kaspar Pfister (Foto) im Interview mit Care-vor9-Chefredakteur Thomas Hartung. Und, was Pfister Kritikern seines stambulanten Systems entgegnet.

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Kaspar Pfister betreibt 48 Pflegeeinrichtungen in Süddeutschland, darunter seit acht Jahren das stambulante Modellprojekt im baden-württembergischen Wyhl

Herr Pfister, seit ein paar Wochen ist Ihr stambulantes System in aller Munde. Gesundheitsminister Karl Lauterbach will es zur Regelleistung machen. Wussten Sie von seiner Ankündigung oder kam das für Sie überraschend?

Beides ist richtig. Wir betreiben das stambulante System seit acht Jahren als Modellprojekt. Da kann man nicht mehr von Überraschung sprechen. Andererseits war es der Zeitpunkt der Veröffentlichung durch das Gesundheitsministerium dann doch.

Minister Lauterbach spricht von versorgten Wohnungen. Ist das überhaupt Ihr Konzept?

Was der Minister ankündigt, basiert auf unserem Modellprojekt ist aber nicht darauf begrenzt. Es geht grundsätzlich darum, die Angebotsformen für pflegebedürftige Menschen sinnvoll zu erweitern und auch weitere, neue Wohnformen zuzulassen

Erklären Sie kurz Ihr stambulantes Projekt.

Wir haben in unserer Modelleinrichtung in Wyhl in vier Hausgemeinschaften die Vorteile von stationär und ambulant zu einer neuen Wohnform verknüpft. Zielgruppe sind Menschen, die zu Hause in ihrer Wohnung nicht mehr versorgt werden können. Die Wohngemeinschaften sind autark, jede hat zum Beispiel eine Küche, Wohnzimmer mit Kaminofen, vereinfacht gesagt eine barrierefreie WG für pflegebedürftige Menschen. Der Alltag spielt sich in der Gemeinschaft ab, es wird zusammen Essen gekocht, Frühstück gemacht, Kuchen gebacken, die Wäsche gemacht und der komplette Haushalt gemeinsam erledigt. Die Bewohner sind in Haushaltstätigkeiten eingebunden – jeder wie er kann und will. Das setzen wir auch als therapeutisches Mittel ein. Menschen, die in einer solchen Umgebung leben, verbessern ihren Allgemeinzustand, im Schnitt haben wir über 30 Prozent der Bewohner, die zurück gestuft werden können oder wieder nach Hause gehen. Es gibt in jeder WG fest anwesendes Stammpersonal und insgesamt eine 24 Stundenpräsenz von Pflegefachkräften. Angehörige übernehmen verantwortlich Aufgaben und es gilt das ambulante Leistungsrecht mit Modifizierungen. Im Kern geht es um einen effektiven Einsatz der Personalressourcen und das, was der Sachverständigenrat aktuell in seinem Gutachten feststellt, wird in stambulant bereits realisiert.

Was sind die wichtigsten Unterschiede zu einer stationären Einrichtung und zur ambulanten Pflege?

Wir sind insofern stationär, was zum Beispiel die Heimbauverordnung betrifft. Alle Wohnräume entsprechen diesen Vorschriften. Dennoch haben wir ein Wohnumfeld geschaffen. Es gibt zum Beispiel eine offene Küche und keine Handläufe. Die Zimmer sind primär die Schlafzimmer der Bewohner. Und trotz ambulantem Leistungsrecht erfolgt die ordnungsrechtliche Kontrolle 'stationär', also Heimaufsicht, Gesundheitsamt, Lebensmittel Kontrolle und so weiter.

Und wo sind Sie ambulant?

Im Leistungsrecht aber mit Modifizierungen. Neben der Grundversorgung, die für alle greift, schauen wir individuell, welche zusätzlichen Leistungen jeder braucht oder sich wünscht. Was davon übernimmt der Bewohner selbst – zum Beispiel Zimmerreinigung –, was übernehmen Angehörige – – zum Beispiel Wäscheversorgung – oder eben ein ambulanter Dienst – zum Beispiel Grund- und Behandlungspflege. Wenn etwa jemand jeden Tag gebadet werden will, dann machen wir das natürlich. Für diese Leistungen berechnen wir einen Stundensatze von 45,17 Euro. Da spielt es dann auch keine Rolle, wenn es beim einem etwa länger dauert und beim anderen schneller geht.

Wie sieht die Grundversorgung aus?

Es gibt eine Pauschale für die Finanzierung der Grundleistung wie Wohnen, Essen, Wäscheversorgung und Stammpersonal. Auch für Leistungen der Behandlungspflege wie Medikamentengabe oder Blutzuckermessung erhalten wir ohne Rezept eine SGB-V-Pauschale. Die Präsenzkräfte sind Alltagsbegleiter/Allrounder und übernehmen Aufgaben wie pflegende Angehörige zuhause. Sie sind von 7 bis 21 Uhr in jeder Wohngemeinschaft zugegen, von 9 bis 13 Uhr zu zweit. Außerdem haben wir rund um die Uhr Pflegefachkräfte vor Ort, die Vorbehaltsaufgaben und Qualitätssicherung übernehmen. Dieses fixe Personalpaket ohne Quoten und Schlüssel ist kalkuliert und mit den Kassen verhandelt.

Wie hoch ist der Eigenanteil bei Ihnen?

Für die Bewohner verbleibt ein Eigenanteil von 2.700 Euro pro Monat. Das ist im Vergleich zu einer stationären Einrichtung in Baden-Württemberg mit nicht gefördertem Neubau rund 1.000 Euro pro Monat günstiger. Und, die Bewohner erhalten zusätzlich noch ein persönliches Budget von bis zu 1.300 Euro, das sie für ambulante Dienste einsetzen können oder eben Pflegegeld erhalten.

Wie binden Sie Angehörige ein?

Wir vereinbaren mit Ihnen, welche Leistungen sie übernehmen wollen und können. Wir kümmern uns um die Qualitätssicherung und intervenieren, wenn es zu Defiziten kommt. Das ist aber in acht Jahren noch nie vorgekommen.

Wo ist der Unterschied in der Führung eines stambulanten Hauses?

In klassischen Einrichtungen geht es sehr stark um Strukturen und Prozesse. Natürlich muss das auch in einer stambulanten Einrichtung funktionieren, aber der Fokus liegt auf der Zufriedenheit der Bewohner und Angehörigen. Wir sind ständig mit ihnen im Gespräch, was sie sich wünschen, was notwendig ist oder was sich verändert. Die Anforderungen an die Kommunikation sind deutlich höher. Auch die Pflegefachkräfte haben eine ganz andere Verantwortung, sie steuern den Pflegeprozess. Sie tun das, wozu sie ausgebildet sind. Eine Pflegefachkraft muss kein Bett machen. Stambulant bedeutet mehr Gestaltungsspielraum für alle, aber auch mehr Verantwortung.

Sie haben in Wyhl vier Wohngemeinschaften in einem Haus. Würde Ihr Konzept auch mit einer funktionieren?

Nein, es braucht vier. Das ist die unterste Grenze, damit sich die Gemeinkosten und sich die erforderliche Personalausstattung für eine 24-Stundenabdeckung rechnet. Es sollten aber auch nicht mehr als sechs sein. Sonst wird es unübersichtlich.

Haben Sie die Einrichtung umgebaut oder funktioniert das stambulante Konzept auch in einem stationären Gebäude?

Die Räumlichkeiten müssen schon darauf ausgerichtet sein. Ich betreibe 48 Einrichtungen, davon 27 mit stationären Hausgemeinschaften. Wenn stambulant zur Regelleistung wird, werde ich letztere in stambulanten Einrichtungen umwandeln. Das braucht aber Zeit und dauert Jahre. Ich muss Mitarbeiter schulen, Bewohner und Angehörige darauf vorbereiten, Entgeltverhandlungen führen und so weiter – das kann man nicht mal eben so machen.

Einige Verbände und Pflegeprofessor Rothgang sehen stambulant als eine weitere Versorgungsform kritisch. Was entgegnen Sie ihm?

Es ist typisch Deutsch und typisch für die Pflege, dass alle seit Jahren sagen, es muss sich etwas ändern. Und wenn dann was Neues kommt, dann weiß man sofort, was daran nicht gut ist. Eine Auflösung der Sektoren, wie Professor Rothgang sie vorschlägt, wäre sicher der beste Weg und die fordere ich schon lange. Doch davon sind wir weit, weit weg. Was wir machen, ist eine erste Stufe dorthin: Im stationären Rahmen ambulantes Leistungsrecht. Das ist ein Riesenschritt und eine große Chance. Wenn wir in der Fläche beweisen, dass wir bessere Qualität zu günstigeren Preisen liefern können, dann werden wir auch in der Politik und den Kostenträger auf mehr Offenheit stoßen, in diese Richtung weiterzudenken. Stambulant ist keine neue Versorgungsform, sondern die sinnvolle Verbindung von stationär und ambulant.

Heute ist in der Pflege alles bis ins kleinste Detail geregelt. Wie kann da ein System wie Ihres funktionieren?

Ich lese jeden Tag bei Ihnen über Insolvenzen und Schließungen. Ich bekomme jeden Tag Mails, ob ich nicht diese oder jene Einrichtung übernehmen will. Die Signale sind so deutlich, dass jetzt etwas geschehen muss. Wir müssen aus diesem total überregulierten System endlich raus. Nehmen Sie zum Beispiel den Medizinischen Dienst. Da arbeiten rund zwölftausend Leute. Ein Schwerpunkt ist, den Pflegegrad von Versicherten zu begutachten. Das wissen Pflegefachkräfte vor Ort viel besser, das ergibt sich mehr oder weniger automatisch aus der SIS (Strukturierte Informationssammlung), die jede Einrichtung führen muss.

Woher kommt das Misstrauen?

Auch das ist typisch Deutsch. Wenn irgendwo ein Fehler passiert, dann rufen alle gleich nach strengeren Vorschriften, Gesetzen und Kontrollen. Es wird aber hinterher nie geprüft, ob es was geholfen hat. Das zweite ist ein grundsätzliches Misstrauen gegen private Pflegeanbieter. Pfui Teufel, wie kann man in der Pflege Geld verdienen! Wir sind in der Lage, uns verantwortungsvoll zu verhalten. Ich erwarte, dass Politik uns das zugesteht und die private Altenpflege nicht wie Verbrecher behandelt. Kontrollen in einem vernünftigen Maß sind wichtig, aber wir werden es nie schaffen, selbst mit den besten Kontrollen kriminelle Machenschaften komplett zu verhindern.

Ihr Modellversuch in Wyhl läuft jetzt acht Jahre. Was glauben Sie, wann wird Wyhl kein Pilotprojekt mehr sein?

Meine Erlaubnis für das Modellprojekt läuft Ende des Jahres aus. Ich will nicht noch eine Verlängerung. Das kann ich auch meinen Bewohnern, Angehörigen und Mitarbeitern nicht zumuten. Die wollen wissen, wie es für sie weitergeht. Wir brauchen im Sommer eine Entscheidung. Außerdem stehen viele Kommunen in den Startlöchern für stambulante Einrichtungen und 23 Bürgermeister aus vier Bundesländer haben sich erneut an Minister Lauterbach gewandt. Wir haben Projekte für 70 bis 80 Millionen Euro in der Pipeline. Die sind baureif, aber wir können nicht anfangen, weil das Gesetz fehlt. Ebenso klopfen bei mir täglich andere Träger aus dem gesamten Bundesgebiet an, die ebenfalls stambulant realisieren wollen.

Herr Pfister, Sie gehen auf die 70 zu. Wie möchten Sie persönlich alt werden?

Also erstens bin ich 67 und in meinem Buch erwähne ich, dass die Zeit zwischen 30 und 60 die gleiche Lebenszeit ist wie 60 – 90. Das sollte man sich mal in einer ruhigen Minute verinnerlichen. Aber die Frage, wie ich leben möchte, wenn es zu Hause nicht mehr geht, habe ich mir beantwortet. Klassische Pflegeheime können noch so gut sein, für mich wäre das nichts. In einer stambulanten Hausgemeinschaft alt werden, das kann ich mir gut vorstellen.

Kaspar Pfister ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter der Benevit-Gruppe. 19 Jahre lang hat er als kommunaler Verwaltungsbeamter gearbeitet und war danach Geschäftsführer von kirchlichen, kommunalen und privaten Trägern. Vor 20 Jahren hat Pfister Benevit geründet. Das Unternehmen betreibt heute 48 Einrichtungen an 32 Standorten. Die Benevit-Gruppe beschäftigt rund 1.900 Mitarbeiter. Benevit ist ein Familienunternehmen. Pfisters Tochter Claudia Kanz ist Architektin und arbeitet als Leiterin Bauprojekte für Benevit, Sohn Tizian Pfister kümmert sich um Finanzen und IT. Kaspar Pfister hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt im vergangenen Jahr "Die Pflegekatastrophe".

Das Interview führte Thomas Hartung

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