Für niedrigere Krankenstände braucht es bessere Organisation
Entscheider in der Altenpflege belächeln das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) oft als eine Annehmlichkeit, die zwar nett ist, aber nicht essenziell für ein Unternehmen. Joachim Görtz vom Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (BPA) in Bayern widerspricht im Interview mit Care vor9: BGM sei ein wirksames Mittel gegen Fachkräftemangel und hohe Krankenstände, wenn Pflegeanbieter es als Teil ihrer Organisationsentwicklung begreifen.
iStock/Povozniuk
Wenn Mitarbeiter wegen Teamkonflikten oder schlecht organisierter Abläufe krank werden, nützen Entspannungskurse wenig – dann hießt es: Ran an die Strukturen
Herr Görtz, als Leiter der Stabsstelle Betriebliche Gesundheitsförderung des BPA machen Sie sich seit Jahren für das BGM stark. Für den 3. Dezember haben Sie nun zusammen mit dem Verband der Ersatzkassen, Vdek, der Berufsgenossenschaft BGW und dem Präventionsnetzwerk Nord eine Veranstaltung unter dem Titel "Pflegenotstand – Fachkräftemangel oder der bessere Arbeitgeber" initiiert. Wie genau meinen Sie das?
BGM wird in erster Linie noch immer mit Rückenkursen und Obstkorb verbunden. Aber es ist nicht reine Verhaltensprävention. Es muss ein Zusammenspiel mit Verhältnisprävention geben. Das bedeutet: Ein wesentlicher Teil von BGM ist Organisationsentwicklung und zielt auf die Arbeitsverhältnisse. Ein Stressmanagementkurs bewirkt wenig, wenn Mitarbeiter im Alltag massiv unter Druck stehen. In solchen Situationen helfen ihnen keine Atemübungen, da muss man schon mit schwereren Geschütz auffahren. Da gilt es für Arbeitgeber bei den Strukturen anzusetzen.
Was genau bedeutet Verhältnisprävention an den Strukturen ansetzen?
Ein zentrales Thema der Verhältnisprävention ist Dienstplansicherheit oder auch ein funktionierendes Ausfallmanagement. Aus einer aktuellen Studie zu Springerdiensten in Bayern wissen wir, dass ein systematisches Ausfallmanagement die Arbeitszufriedenheit und Arbeitsfähigkeit steigert. Es bringt also enorm viel, wenn im Unternehmen die Devise gilt: Wer frei hat, soll auch freihaben. Auch ein hoher Digitalisierungsgrad in der Pflege trägt zur Steigerung der Arbeitsfähigkeit bei. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung hat gezeigt, dass der Krankenstand in der Pflege je nach Reifegrad der Digitalisierung um bis zu 20 Prozent sinkt.
Gibt es auch eine Untersuchung, die belegt, dass ein systematisches Ausfallmanagement den Krankenstand senkt?
Die Studie zu den Springerdiensten in Bayern der Hochschule Kempten legt einen solchen Schluss nahe, wenngleich für eine eindeutige Bewertung der Prüfzeitraum von einem Jahr zu kurz war. Direkt belegt hat es vor einigen Jahren die Diakonie Bayern. In elf Einrichtungen konnte in einem Springerprojekt über zwei Jahre ein signifikanter Rückgang der Krankheitstage gemessen werden. Und in beiden Projekten im Übrigen auch ein deutlicher Rückgang der Leiharbeit – das stärkt das Team und hat alle unsere Erwartungen bestätigt.
Was können Pflegeunternehmen machen, die neu ins BGM einsteigen möchten? An wen können Sie sich wenden?
Der Verband der Ersatzkassen Vdek ist einer der zentralen Partner des BPA, aber natürlich arbeiten wir auch mit den Landeskassen wie der AOK. Der Vdek hat immens viele Berater in einem bundesweit identischen Instrument namens Mehrwert Pflege, die vor Ort kommen und mit der Einrichtung reden und die zentralen Probleme in den Blick nehmen: Teamkonflikte, Arbeitsorganisation etc. Die treffen sich regelmäßig mit Vertretern der Einrichtung und begleiten etwa 18 Monate lang die Umsetzung, etwa eines Springerdienstes. In jeder BPA-Landesgeschäftsstelle gibt es mittlerweile einen Mitarbeiter, der, wenn gewünscht, den Kontakt zum Vdek herstellen kann. Wir fungieren gern als Mittler und können auch über andere Angebote informieren, etwa der Berufsgenossenschaft, der Initiative Wertgeschätzt oder der AOK, die in einigen Bundesländern ein spezielles BGM-Programm anbietet, etwa Care4Care.
Mit welchen Kosten ist die Vdek-Beratung verbunden?
Die Beratung ist kostenfrei, Einrichtungen müssen nur Zeit investieren und bereit sein, sich immer wieder in den Austausch zu begeben. Es gibt allerdings die Möglichkeit, eine Pause einzulegen, weil gerade andere Themen dringender sich oder die Beteiligten bestimmte Vorhaben erst einmal in ihren Köpfen umwälzen müssen.
Und wie geht ein Betreiber vor, der auf traditionelles BGM setzt und seinen Mitarbeitern einen Entspannungskurs oder ein Rückentraining anbieten möchte?
Auch in dem Fall heißt es: einfach zu einer Krankenkasse wie der AOK Kontakt aufnehmen. Die eine Krankenkasse organisiert das Angebot dann für alle Mitarbeitenden, die Interesse daran haben, ganz unabhängig davon, bei welcher Krankenkasse sie versichert sind. Auch die Barmer hat tolle Angebote.
Dass auch die Verhaltensprävention ihre Berechtigung hat, hat sich übrigens eindrücklich vor zehn Jahren gezeigt, als Klaus Holetschek noch Vorsitzender des Bayerischen Heilbäder-Verbandes war. Er organisierte mit uns für 120 Mitarbeitende der Altenpflege einen fünftägigen Aufenthalt in Bad Reichenhall und ließ das Ganze wissenschaftlich begleiten. Da gab es Rückengymnastik, Psychoedukation, Schlafhygiene und, und, und…
Obwohl es sich nur um einen kleinen Zeitraum handelte, zeigten die Mitarbeitenden danach schon deutlich bessere Werte beim Wohlbefinden. Es reduzierten sich auch die Krankheitstage. Für eine anhaltende Wirkung wäre dann aber noch die Verhältnisprävention nötig gewesen. Es ist ein echter Fortschritt, dass die jetzt endlich auch ins Spiel gekommen ist.
Das Interview führte Kirsten Gaede