Warum es so oft zu Insolvenzverschleppung kommt
Insolvenzverschleppung passiert schneller als gedacht und oft nicht in böser Absicht. Doch die Konsequenzen können existenzbedrohend sein. Hinzu kommt: Die Aussichten auf eine Insolvenz in Eigenverwaltung verringern sich. Gregor Bräuer, Fachanwalt für Insolvenzrecht, erklärt im Interview mit Care vor9, wie sich Insolvenzverschleppung vermeiden lässt und wie sich Pflegeanbieter am besten auf die oft verzögerten Zahlungen von Kassen und Sozialämtern einstellen.
Jens Schünemann
Kaum mehr Geld in der Kasse? Viele kleinere Unternehmen haben kein funktionierendes Krisenfrüherkennungssystem
Was bedeutet genau Insolvenzverschleppung?
Gregor Bräuer: In Deutschland ist gesetzlich genau geregelt, wann ein Unternehmen einen Insolvenzantrag stellen muss. Juristische Personen, also etwa GmbHs, Aktiengesellschaften, eingetragene Vereine oder haftungsbeschränkte Personengesellschaften, sind verpflichtet, laufend zu prüfen, ob ein Insolvenzgrund vorliegt – das bedeutet insbesondere: Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung. Es handelt sich also nicht nur um eine kaufmännische Pflicht, sondern um eine gesetzlich geregelte Überwachungspflicht.
Im Fall der Zahlungsunfähigkeit sieht das Gesetz vor, dass spätestens drei Wochen nach Eintritt dieses Zustands ein Insolvenzantrag gestellt werden muss – sofern keine aussichtsreiche Sanierungsmöglichkeit besteht. Wer dieser Antragspflicht nicht nachkommt, macht sich nach der Insolvenzordnung, Paragraf 15 a, strafbar und haftet zivilrechtlich für den Schaden, der den Gläubigern durch die verspätete Antragstellung entsteht. Das kann für Geschäftsleiter existenzbedrohende Folgen haben.
Können Sie schätzen, in wie vielen Fällen eine Insolvenz verschleppt wird?
Ich kann nur aus meiner Erfahrung aus fast 20 Jahren als Insolvenzverwalter und Sanierungsberater sprechen: Die verspätete Antragstellung ist sehr häufig – fast schon die Regel. Das liegt aber nicht zwingend an böser Absicht, sondern auch an den Rahmenbedingungen. Drei Wochen sind eine kurze Frist, und viele kleine und mittlere Unternehmen verfügen nicht über ein funktionierendes Krisenfrüherkennungssystem. Sie erkennen die Schieflage oft erst verspätet – etwa im Rahmen der Jahresabschlusserstellung oder wenn der Steuerberater sie darauf hinweist.
Dazu kommt eine emotionale Komponente: Viele Unternehmer versuchen mit allen Mitteln, das Unternehmen zu retten – nicht zuletzt wegen der Verantwortung gegenüber ihren Mitarbeitenden. Ich höre nicht selten: "Es geht mir nicht um mich, sondern um die Familien, die an meinen Mitarbeitenden hängen." Dann wird versucht, Lücken zu stopfen – teilweise mit privaten Mitteln. Aber dabei wird oft übersehen, dass nicht alle Verbindlichkeiten gedeckt werden können. Man stopft ein Loch, reißt aber ein neues auf – und die drei Wochen vergehen schnell.
Man sollte also vorsichtig mit Vorwürfen sein. Die meisten handeln nicht mit Schädigungsabsicht, sondern aus Hoffnung – und das macht es so gefährlich. Denn wenn später festgestellt wird, dass der Antrag zu spät kam, schließt das in der Regel auch eine Eigenverwaltung aus, weil das Gericht dann Zweifel an der Eignung der Geschäftsführung hat. Hinzu kommt die persönliche – auch strafrechtliche – Haftung der Geschäftsleiter.
Wie können kleinere Unternehmen ohne tagesaktuelles Controlling Insolvenzverschleppung vorbeugen?
Auch ohne tagesaktuelles Controlling gibt es klare Warnsignale: Wenn sich offene Forderungen häufen, Mahnungen zunehmen – gerade vom Finanzamt oder von Sozialversicherungsträgern –, dann sind das deutliche Hinweise auf Liquiditätsprobleme.
Spätestens in dieser Phase sollten Unternehmer Beratung in Anspruch nehmen: den Steuerberater oder einen auf Sanierung spezialisierten Berater. Je früher man handelt, desto mehr Möglichkeiten bestehen. Auch eine Eigenverwaltung ist dann noch denkbar – aber sie muss gut vorbereitet sein. Dazu gehören Gespräche mit Banken, Kunden, Lieferanten, Energieversorgern, Gesellschaftern – also mit allen relevanten Stakeholdern. Denn ohne deren Unterstützung ist eine Eigenverwaltung nicht umsetzbar.
Können Sie den Eindruck der Pflegeanbieter bestätigen, dass Sozialämter und Pflegekassen Zahlungen hinauszögern und so zu Insolvenzen in der Branche beitragen?
Das kann ich bestätigen. Es gibt gesetzliche Fristen, innerhalb derer Pflegekassen oder Sozialämter Leistungen erstatten müssen – aber in der Praxis werden diese häufig nicht eingehalten. Die Zahlungen kommen dann mit erheblicher Verzögerung. Dagegen können sich Leistungserbringer nur schwer wehren. Bis das Geld eintrifft, kann es für den Betrieb bereits zu spät sein.
Ein weiteres Problem sind aber die gestiegenen Personal- und Sachkosten, die nicht immer durch entsprechende Anpassungen der Pflegesätze ausgeglichen werden. Viele Pflegeunternehmen unterschätzen zudem den Aufwand, der mit Pflegesatzverhandlungen verbunden ist – insbesondere durch langwierige Verfahren, wechselnde Sachbearbeiter oder bürokratische Hürden. Das kann dazu führen, dass Einrichtungen über Monate hinweg nicht kostendeckend arbeiten – was sich schnell in Liquiditätsproblemen niederschlägt.
Wie können Pflegebetreiber mit dem ewigen Ärger mit Pflege- und Sozialkassen am besten umgehen?
Hier hilft vor allem eine realistische und vorausschauende Liquiditätsplanung. Die Unternehmen sollten von Anfang an einplanen, dass Zahlungen nicht immer fristgerecht kommen und Pflegesatzverhandlungen sich hinziehen können. Nur wer ein zuverlässiges Controlling hat und Vorsorge trifft, kann solche Verzögerungen überbrücken. Factoring kann in diesem Kontext auch maßgeblich zur Entspannung beitragen.
Ein kritischer Punkt ist auch der Personalaufwand. In der Pflege gilt eine grobe Faustregel: Der Personalaufwand sollte etwa 65 Prozent des Umsatzes nicht übersteigen. In der Praxis sehe ich aber immer wieder Betriebe mit Personalquoten von 80 bis sogar 95 Prozent – da bleibt schlicht kein Spielraum mehr für Miete, Instandhaltung oder sonstige Betriebskosten. Das ist wirtschaftlich auf Dauer nicht tragfähig.
Gregor Bräuer arbeitet seit fast 20 Jahren als Fachanwalt für Insolvenz- und Sanierungsrecht. Als Partner der Anwaltskanzlei Streitbörger in Düsseldorf hat er unter anderem die Insolvenzverfahren von Mister Minit und der deutschen Tochtergesellschaft des schwedischen Modekonzerns Gina Tricot begleitet. Außerdem verantwortet er das Insolvenzverfahren der Pflegedienstkette Kenbi.
Das Interview führte Kirsten Gaede
In Teil 1 des Interviews erklärt Gregor Bräuer zusammen mit Nicolas Krämer, was die häufigsten Gründe für Insolvenzen in der Pflegebranche sind. In Teil 2 geht es um die Vorteile einer Insolvenz in Eigenverwaltung.